Samstag, 13. September 2008

"Die höhere Ideologieanfälligkeit der Verbalwissenschaftler"

Studium generale berichtete am 9. Juli über Ulrich Kutschera (siehe Bild) und seine Auseinandersetzung mit Kreationisten und "Naturalismus-Kritikern". Lars Fischer fragte daraufhin am 16. Juli: "Was ist eigentlich euer Problem?" - Nun hat es im Laborjournal eine Weiterführung in diesen Auseinandersetzungen gegeben (über hpd). Der Neuphilologe und Mathematiker Remigius Bunia aus Friedrichshafen schreibt da als Leserbrief zu dem Kutschera-Artikel:
Zunächst erscheint der Ausdruck ,Verbalwissenschaftler' so passend, dass gegen ihn nichts einzuwenden ist. Er ist, vergleicht man ihn mit ,Geisteswissenschaften' oder den englischen ,Humanities', so treffend, dass ich beschlossen habe, ihn für meinen Sprachgebrauch zu übernehmen. Denn es ist richtig: Verbalwissenschaftler befassen sich mit dem gesamten Wortbestand dieser Welt. Dabei ist es in der Regel die Sekundärverwertung, um die es ihnen geht: Historiker zweitbenutzen Quellen, Juristen zweitbenutzen Gerichtsurteile, Literaturwissenschaftler zweitbenutzen Dichtung. Natürlich gibt es die Tertiärverwertung, von der Kutschera spricht, und an ihr ist grundsätzlich nichts auszusetzen: Historiker schreiben über Texte anderer Historiker, Juristen schreiben über Texte anderer Juristen, Literaturwissenschaftler schreiben über Texte anderer Literaturwissenschaftler, und so weiter. Bisweilen gibt es primäres Textschaffen: Auch Verbalwissenschaftler können Ideen in die Welt setzen, die diese verändern; zum Beispiel ist die Gewaltenteilung im Staat zunächst auf dem Papier entstanden.

Kein Mensch mit gesundem Menschenverstand zweifelt an dem Nutzen der Erforschung verbaler Phänomene. Auch Kutschera legt viel Wert darauf, die Verbalwissenschaftler nicht in einem Rutsch zu diskreditieren. Denn jeder Biologe, der sich mit einem DFG-Antrag schon einmal gequält hat, wird kaum leugnen wollen, dass die Kraft des Verbalen eine immense Gewalt auf sein Forscherdasein ausübt; er kennt Arbeits- und Dienstverträge und kennt ihre Wirkung; ja: dass gesprochene Sprache im Alltag von eminenter Bedeutung für alle sozialen Prozesse ist, kann kaum in Abrede gestellt werden.

Aber genau deshalb wirkt der meist umsichtige Text in seinem teils auch herablassenden Tonfall ärgerlich. Denn wie kann man behaupten, dass den Verbalwissenschaften die "Realwissenschaften" gegenüberstehen? Dieser Ausdruck ist ein grober Fehlgriff, nicht weil die Naturwissenschaften keine Realwissenschaften wären, sondern weil sich gerade Verbalwissenschaftler mit der harten Realität des gesprochenen Wortes beschäftigen.
Dem muß durchaus zugestimmt werden. Was Bunia dann schreibt, ist aber nicht mehr so klar und schlüssig. Und dann ist auch die Frage zu stellen, ob die "harte Realität des gesprochenen Wortes" wirklich so hart und real ist wie das, was Naturwissenschaftler erforschen. Und das wird auch das Gegenargument von Kutschera sein (siehe unten).

Strittig sind ja hier offenbar vor allem menschliche, soziale Phänomene, denen man sich "verbal" annähern kann oder indem man beispielsweise ihre biologische Herkunft erforscht oder indem man das erforscht, was der Mensch in der Welt heute zu erkennen fähig ist aufgrund von gesellschaftlichen Entwicklungen, die ebenfalls verbaler Art waren - aber eben nicht nur, sondern zu entscheidenden Anteilen technischer Art und so weiter.

Zum Schluß gibt Bunia in Abwandlung eines Wittgenstein-Zitates eine Ergänzung zu Kutschera's "Nichts in den Geisteswissenschaften macht Sinn außer im Lichte der Biologie". Sie lautet: "Die Naturwissenschaft ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Allpräsenz der Sprache." Auch dem wird man sicherlich zustimmen können.

Kutschera antwortet

In seiner Antwort fährt Kutschera nun aber eine neuerliche "Verbal"-Attacke gegen die "Verbalwissenschaften", die Spaß macht und die sich gewaschen hat. Er beginnt mit "verhaltensbiologischen" Beobachtungen an "Verbalwissenschaftlern" in den "Semesterferien":
Zur Zeit sind wieder "Semesterferien"; da haben die faulen Studenten und deren nicht minder arbeitsscheue Chef-Ausbilder, sprich Universitätsprofessoren beziehungsweise "Hochschullehrer", über Monate hinweg frei. So ein lustiges Leben wünsche ich mir auch, lautet das Urteil vieler Steuerzahler.

Besuchen wir die Seminar-Räume und Bibliotheken der geisteswissenschaftlichen Fakultäten, so ist dort in der Tat außerhalb der Vorlesungs- und Schulferienzeit kaum jemand anzutreffen. Die fest angestellten Sekretärinnen trinken Kaffee und erzählen sich Geschichten über den dauerabwesenden Chef, die Assistenten weilen im Mutter- beziehungsweise Vaterschafts-Urlaub oder auf Tagungen, und die Studenten der Soziologie, Politologie, Germanistik, Anglistik, Geschichte, Philosophie, Theologie und so weiter sind, bis auf wenige Ausnahmen, verschollen: Wahrhafte "Geister"-Studenten. Nur einige Fleißige schreiben Hausarbeiten oder korrigieren solche.

Ein anderes Bild zeigt sich bei einer kleinen, bescheiden lebenden Studenten-Minderheit, den angehenden Biologen, Chemikern, Physikern und Ingenieuren. Sie haben kein "lustiges Studentenleben": Während der vorlesungsfreien Zeit (das Un-Wort "Semesterferien" gibt es in den Naturwissenschaften nicht) finden Labor-Praktika, Exkursionen und Prüfungen statt, und das in einem Ausmaß, dass ich mich als Biologie-Chemie-Student an der Uni Freiburg meistens auf das beginnende Semester gefreut habe. Zumindest jene Professoren naturwissenschaftlicher Fachgebiete, die man als Autoren von Fachbüchern und Web of Science-Publikationen im Internet findet, forschen in der vorlesungsfreien Zeit und schreiben an Manuskripten und Forschungsanträgen.

Wie ist diese unterschiedliche Nutzung der "Semesterferien", die eine statistisch belegte Tatsache ist, zu bewerten?

Es gibt dazu zwei Theorien:

1. Angehende Geisteswissenschaftler sind im Durchschnitt intelligenter als ihre Kommilitonen aus den Naturwissenschaften. Daher können sie die "Semesterferien" zum Erholen und Geld verdienen nutzen.

2. Die Naturwissenschaften fordern mehr Arbeitsaufwand und persönlichen Einsatz. Der Grund: hier wird Erkenntnis im wesentlichen über experimentelle Methoden gewonnen. Die Studenten unterwerfen sich strengeren Anforderungen, weil sie etwas Handfestes, Solides, Verwertbares lernen und sich die logisch-rationale Denkweise aneignen wollen.

Für Theorie 1 (höherer IQ bei angehenden Verbalwissenschaftlern) sprechen keine mir bekannten Fakten. Niemand scheint sich die Mühe gemacht zu haben, die Durchschnitts-IQ-Werte der Studenten verschiedener Fachbereiche zu messen (wobei noch zu klären wäre, was der IQ eigentlich misst). Es ist aber bezeichnend, dass (nicht nur) in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wesentlich mehr Studenten der Geisteswissenschaften ideologische Scheuklappen trugen als solche der Naturwissenschaften. Die Demonstrationszüge, in denen Massenmörder wie Stalin und Mao verherrlicht wurden, bestanden hauptsächlich aus Soziologen, Politologen, Pädagogen, Theologen – also aus Studenten, deren Expertise darin bestanden haben sollte, es gerade hier besser zu wissen. Wozu ist Politologie gut, wenn sie einem nicht einmal in der Politik Durchblick verschafft? Doch die angehenden Verbalwissenschaftler wussten es nicht besser, sie priesen ein System, dass einige Jahre später ruhmlos zusammenbrach und nichts zurückließ als gebrochene Karrieren und miserable Straßen. Zugegeben, das lässt nicht nur auf geringere Intelligenz und mehr auf mangelnde Urteilskraft schließen, aber immerhin haben sie sich dümmer verhalten als jeder Fabrikarbeiter. Es scheint mir daher nicht berechtigt bei den Verbalwissenschaftlern, im Vergleich zu den Realwissenschaftlern, von einem höheren IQ auszugehen.

Also scheint die Theorie 2 zuzutreffen. Ich betone, dass es auch unter Studenten der Realwissenschaften "Traumtänzer" gibt und manche Verbal-Studenten über die strenge Arbeitsmoral der besten "Realos" verfügen. Wir diskutieren hier den Durchschnitts-Studenten.
"... In den Nebeln von Avalon, ohne je ein Ufer zu erreichen"

Und dann kommt Kutschera zur Sache selbst und hat auch hier wieder völlig recht:
In den Realwissenschaften gibt es richtige und falsche Fakten beziehungsweise Thesen, innerhalb der Ghost-Sciences werden Meinungen vergleichend bewertet. Es ist nicht möglich, wahr oder falsch zu unterscheiden: Zwei Analysen über Shakespeares "König Lear" oder das "Kapital" von Karl Marx können zu diametral entgegen gesetzten Aussagen kommen, ohne dass es je möglich sein wird, die eine mit dem Label falsch zu etikettieren – auch nach endlosen Diskussionen nicht. Es setzt sich vielmehr jene durch, die besser formuliert ist oder optimaler in einen politisch-ideologischen Zusammenhang passt. Daher auch die relativ höhere Ideologieanfälligkeit der Verbalwissenschaftler.
Das kann man für unglaublich wichtige Sätze halten. Oder an anderer Stelle:
Ein weiterer Punkt ist die fehlende Reproduzier- und Überprüfbarkeit der Literaturarbeit: man liest "Tacitus" heute so und morgen anders.
Erst eindeutige archäologische Belege entscheiden letztlich definitiv, ob Tacitus in starker oder geringer Weise ein verzerrtes Bild von den Tatsachen gibt. Oder an anderer Stelle:
Hätten sich die Biologen auf das Lesen der Fachliteratur beschränkt, nach Ansicht des oben zitierten Bücher-Gelehrten (Bunia) ein Analogon zum Experiment, wären wir immer noch auf dem Stand von 1928. (...) Wer nie seine Lieblingsthese an einem Experiment hat scheitern sehen, wird den Unterschied zwischen Real- und Verbalwissenschaften nicht verstehen. Das Experiment ist dem Realwissenschaftler der Halt im geistigen Chaos, der Verbalwissenschaftler dagegen rudert in den Nebeln von Avalon, ohne je ein Ufer zu erreichen.
Klasse, Klasse, Klasse! Auf dem Brightsblog bisher in 11 Kommentaren weitgehend Zustimmung. Wohl sehr mit recht.

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